Aug 30, 2009

Fast Sarajevo XI

noch ниш - 23.08.

Die letzten Minuten in Nis wartete ich an der Hausecke beim einzigen Hostel der Stadt, das zur Not meine Schlafstelle fuer zwei Naechte gewesen waere. Der Wind, der schon gestern nacht verhalten geweht hatte, blies jetzt mit groesserer Kraft durch die Strassen und trieb die ersten Blaetter der Baeume und Muellfetzten im Rinnstein an mir vorbei. Taxis, gefuellt mit Familien, fuhren in Richtung Stadt. Aus einem Zimmer im zweiten Stock eine Strassenecke weiter erklang hinter Waeschestuecken orientalische Musik, die in den Pausen des Strassenlaerms bis zu mir durchdrang. Der Himmel war dunstig, Flaggen wehten im Wind. Ich hielt Ausschau nach dem roten Mercedes-Minibus, der mich ueber Umwege nach Pristina bringen sollte, und rauchte die letzte Zigarette.

Aug 28, 2009

Fast Sarajevo X

ниш - 21.08.

Die Gegend um den Bahnhof von Nis war ruhig um halb elf Uhr nachts, als ich mit dem Zug ankam. Marco wartete mit seinem Scooter an der Treppe zur Eingangshalle. Wir brachten meine Sachen in seine Wohnung und hingen dann in einem Rockclub in der alten Festung herum. Eine duenne unter-der-Woche-Menge saeumte die Tische und den kleinen Platz vor der Buehne. Die Verstaeker warfen die Musik an die uralten Mauern, von wo sie kaskadenartig zu uns zurueckkam, gemischt mit der Vier-viertel bassline aus dem Technoclub, der sich neben unserer venue befand. Es war spaet, als wir zurueck in Marcos Wohnung liefen. Marco sahnte ab, wenn es um Frauen ging, und Facebook war seine schaerfste Waffe. Er hatte begriffen, dass er leichter an ihre Namen (und so ihr Profile) herankam als direkt an ihre Nummern. Das nutze er schamlos aus, sein Lieblingsspruch "Ich habe dich schonmal auf einem Foto eines Freundes auf Facebook gesehen, wie heisst du?" funktionierte auch auf dem Heimweg, 200m von seiner Wohnung, bei einer grossgewachsenen Serbin, die am Fenster sass und selbst gerade online war. Marco fluesterte ihr ein "see you in five minutes" zu, und kurz darauf sassen wir auf seinem Balkon und er loggte sich ein.

Am folgenden Abend hatte Dice zu einer Party etwas ausserhalb der Stadt eingeladen. Marco und ich holten uns an einem der Staende ein Abendessen und warteten vor dem Nationaltheater auf Iva. Ivas Auto war ein klappriger Ford, dessen Windschutzscheibe von ornamentartigen Rissen durchzogen war und dessen Tankanzeige bloss in Rechtskurven einen vertrauenserweckenden Wert angab. Wir holten ihre Cousine Jelena in einer Bar ab und fuhren dann zu Ivas Wohnung, wo wir einmal durch ihre Balkan-House-Sammlung hoerten und von ihrer Mutter sofort Saft und selbstgemachten Kuchen serviert bekamen. Iva warf sich maechtig in Schale. Zu einer weit ausgeschnittenen, etwas zu formellen schwarzen Bluse trug sie schlichte Jeans, beige Sandalen und setzte als Kroenung eine eckige Sekretaerinnen-Brille auf, deren rote innere Umrandung gut mit der Farbe ihres BHs korrespondierte. Eine halbe Stunde spaeter waren wir bei dem Anwesen, wo die Musik spielte, das Auto stellten wir am Strassenrand ab. Hier war Parken noch ein Erlebnis, der abgebrochene Rueckspiegel diente in Ivas Auto lediglich dem Nachschminken und einige Meter von unserem Parkplatz entfernt hatte sich bereits ein Kreis von Maennern gebildet, vermutlich der erste Unfall.

Der Drum'n'Bass passte zu der Atmosphaere ebenso wie die verrueckten Jungs, die vom Balkon im ersten Stock in den Pool im Innenhof sprangen, wild herumplantschten und dann mit rudernden Armen ueber die nassen Fliesen zurueck zur Treppe rannten. Wer genau die Party um drei Uhr beendete, konnten wir nicht herausfinden. War es die Einsatztruppe der Polizei, die gegen zwei Uhr am Eingang und unter den Gaesten auf der Tanzflaeche aufgetaucht war, oder waren es die Organisatoren gewesen, die angesichts leerer Kuehlschraenke ihre Aufgabe fuer erledigt angesehen hatten? Wir stolperten am Pool vorbei und ueber die wackelige Holzbruecke, welche ueber den Bach vor der Villa fuehrte.

Aug 27, 2009

Fast Sarajevo IX

Београд - 19.08. -the balkans, baby!

Anstatt in Belgrad koennte ich jetzt auch in Muenchen sein, die Zugfahrt von Budapest dauert ungefaehr gleich lange und durch den Wegfall der umstaendlichen Kontrollen an der ungarisch-serbischen Grenze waere ich vermutlich sogar eher dort gewesen. Aber was soll ich in Muenchen? In Belgrad laesst sich hervorragend baden (in einem Seitenarm der Sava), es gibt Trattorias wie in Italien, mit knusprigen Pizzas und puderzuckrigen Kirschenstrudeln, Teile der Stadt muten richtiggehend mediterran an und es existieren sogar deutsche Geschaefte wie "dm", was ja sozusagen mein signature-store ist. In Belgrad laesst es sich wirklich aushalten, die Stadt sitzt mit ihren Kirchen und alten Verteidigungsanlagen, mit den letzten Bombenruinen des Krieges, ihren partyversessenen und koerperkultfixierten Bewohnern wie ein trotziges, pubertierendes Maedchen zwischen Donau und Sava.

Muenchen hingegen ist nur in den Gedanken eine Reise wert, als realer Fluchtpunkt taugt die Stadt nicht. Als wirksames Rezept gegen die Sehnsucht nach den suedlichen deutschen Staedten hat sich Bus Nummer 511 erwiesen, der den Passagier vom Bahnhof zum Damm bringt, von dort aus ist es nur ein kurzer Fussmarsch bis zu den Badestraenden und dem Gefuehl von Zuhausesein. Als naechstes Ziel steht Nis im suedlichen Serbien an.

Aug 26, 2009

Fast Sarajevo VIII

Reiseaufzeichnungen/Woche 1, 18.08. the balkans, baby!

In der nicht klimatisierten ersten Klasse, in der wir durch die duerre Pustza fahren, kann einem klar werden, warum aeltere Voelker die Sonne als einen Gott verehrt haben: Wer so unerbittlich und leuchtend grell auf die Erde scheint, kann unmoeglich sterblich sein. Meinen ungarischen Mitfahrer, Marton, quaelen noch immer die staatlichen Identifikationsschwierigkeiten mit dem seit der tuerkischen Eroberung nurmehr ein Drittel so grossen Staat. Ausserdem die zahlreichen Ungarn im Ausland, in der Ukraine, Rumaenien und Slowenien! Die Zigeuner, von denen ich hier im Balkan noch viel hoeren werde, sind auch in Ungarn nicht gern gesehen.

Ich stehe mit zwei Litauern am offenen Fenster des Zuges, als wir endlich in Belgrad ankommen. Es ist kurz vor zehn, wir sind um zwei Uhr nachmittags losgefahren. Der Bahnhof ist bei Nacht besehen ein schaebiger Bau. Westliche Herzen muessten hoeher schlagen, wenn sie das Hostel sehen koennten, in das mich ein Schlepper bringt, der auf just unseren Zug gewartet hat. Es ist sauber dort, mit gestaerkter, weisser Bettwaesche, moderner Kueche und 24/7 Reception. Mein Ostherz aber ist damit nicht zufriedengestellt, es hatte sich eine szenische Unterkunft gewuenscht, mit Lokalkolorit. Das kommunistische Treppenhaus und der guenstige Preis versoehnen mich mit dem Gaestehaus, und wenig spaeter geht es mit einer Truppe aus gutgelaunten Australiern und Englaendern erst zum Boerek-Essen an den Busbahnhof, dann in den einzigen geoeffneten Club am Ufer der Save, dessen laute Housemusik bis in die Altstadt heraufklingt und vor dessen Tuer sich die Belgrader Schoenheiten und auslaenische Gaeste in einer langen Schlange bis zu den Taxis aufreihen.

Aug 25, 2009

Fast Sarajevo VII

Reiseaufzeichnungen, Woche 1 / 18.08.

Auf der Strasse unweit des Oktagon-Platzes treffe ich drei junge Berliner, die sich mir auf der Suche nach einem guenstigen Hostel mit freien Betten anschliessen. Es ist hoechste Hochsaison in Budapest; unweit der Hauptstadt findet auf einer Donauinsel das Sziget-Festival mit seinen rund 400'000 Besuchern statt, der Grand Prix der Formel 1 auf dem Hungaroring ist gerade vor zwei Wochen zu Ende gegangen, ueber der Stadt kreisen die schnittigen Einsitzer des Red Bull Air Race; Madonna singt am 22. August im Kincsem Park - kurz, die Hostels verlangen entweder horrende Preise, sind geschlossen oder ausgebucht. Im Unity Hostel, das im dritten Stock eines alten Gebaeudes sitzt und zum ruhigen und kuehlen Innenhof geht, vermittelt uns die freundliche Receptionistin an ein Hostel einige Strassen noerdlich im siebten Distrikt. Wir kommen schliesslich im "orphan hostel" unter, tatsaechlich in einem alten Waisenhaus angesiedelt, mit klinischen Fluren, Zimmern und einem Speisesaal wie im Film. Von hier ist es nicht weit zum "instant", einem Kunst/Bar-Projekt, das wir nachts besuchen. Ein ganzer Wohnblock samt Innenhof wurde in eine Barlandschaft umgestaltet und mit wild zusammengewuerfelten Moebeln und Graffity dekoriert. Ein gelassenes Montagspublikum gibt sich hier die Klinke in die Hand. Obwohl ich die Gesellschaft der Deutschen zunaechst genossen habe, bin ich nun froh, ab morgen wieder alleine zu sein.

Das Fruehstueck im Hostel ist reichhaltig, auf dem Weg kaufe ich Verpflegung fuer die lange Zugfahrt und dann bin ich schon wieder im Keleti Hauptbahnhof. Wer mit dem Zug von Budapest nach Belgrad will, braucht gutes Sitzfleisch, wenn er ganz backpacker-like auf den Stufen vor der Bahnhofshalle wartet. Der Zug hat stets mindestens eine Stunde Verspaetung, meint Marton, ein freundlicher Ungar, der Deutsch spricht und wahrend des Wartens mit mir Zigaretten und Kaffee teilt. Im Zug gibt es Velours in der ersten und Vinyl in der zweiten Klasse - wir entscheiden uns fuer die Veloursitze, denn so genau nehmen es die Schaffner nicht mit den Tickets.

Aug 24, 2009

Fast Sarajevo VI

Opulentes Budapest. Bruetend heiss sitzt die Stadt da unter dem stahlblauen Himmel. Waehrend ich in Pest beim Verlassen des Bahnhofs die leicht abschuessigen Strassen hinab zur Donau gefuehrt werde, erwarten mich auf der anderen Flussseite die steilen Felswaende des Gellert-Berges, auf dem eine riesenhafte, steinerne Frau steht, in ihren ueber dem Kopf erhobenen Haenden haelt sie eine grosse Feder. Ich mache mir nichts aus den lockenden Aussichtspunkten dort oben, sondern gehe stracks in das Danubias Hotel, in dessen alter, orientalisch anmutender Therme ich die naechsten vier Stunden verbringe. Ich schlendere ueber die mosaikgemusterten Boeden, tauche von einem Thermalbad ins naechste, sitze auf den steinernen Baenken inmitten der Badenden, sitze in den Dampfbaedern und Trockensaunas und vergesse. Hier drin entkommt man dem Laerm und der Hitze der Stadt, hier drin hoert man nicht den Verkehr, die Touristenmassen oder die einmotorigen Maschinen, die beim Red Bull Air Race um den Gellert-Berg duesen und unter den Bruecken ueber die Donau hindurch. In der Therme vernimmt man nur das Plaetschern des Wassers, das tausendfach widerhallende Gemurmel der Gaeste und die leisen Gespraeche der beiden schachspielenden Ungarn neben mir.

Aug 16, 2009

tracking with close-ups

Ostsee

Sarnate

Fast Sarajevo V

Ich bin zuhause, wo ich einen Stopover von 24Stunden einlege, um heute abend nach Budapest zu fahren, wo ich den morgigen Tag in den Thermen verbringe, um endlich anzukommen, loszulassen und die ganzen Erinnerungen und Erfahrungen abzuwaschen und zu verinnerlichen. Ich bin im Sitz der Maschine auf dem Flughafen von Riga eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als bereits die funkelnden Bauten und Türme von Berlin im tiefen Licht der Abendsonne am Fenster vorbeizogen. Ich hatte Träume gehabt während dem Flug, hatte erlebt, wie mich eine feste Hand packte und in eine Traumwelt zog, als der Pilot Schub gab und die Piste hinter sich liess.

Jetzt opfere ich die letzte Briefmarke für den Antrag auf Zusendung der Wahlunterlagen zu meinem Vater, da ich Ende September erst gerade aus Belgrad zurück an die Limmat fahre, nach Zürich. Gleich streife ich meine Armbanduhr und mein Armband ab, die ich hier gerne trage, auf der Reise aber vermissen möchte. Gleich schultere ich den Rucksack, der mich die nächsten sechs Wochen nährt und belastet, den ich durch die Länder des Balkans, durch Belgrad ud Skopje und Montenegro tragen werde, und eines Tages vielleicht auch durch Sarajevo. Gleich lasse ich die Traumstadt Berlin hinter mir, die an diesen Sommertagen erstaunlich konkret vor mir liegt, wo sie doch während meiner zwei Wochen in Lettland als ein unruhiges, diffuses Netz aus Partys, Arbeit und Wohnen war, mit vereinzelten Strassenzügen zwischen den alten, schweren Bauwerken der östliche Stadtteile. Gleich steige ich in den Zug, und bin endlich angekommen, im sich endlos vor mir erstreckenden Traum der Reiselust, im Zagen und sich verloren fühlen. Schon sind die Bilder vor meinem geistigen Auge vorbeigewischt, sie zeigen die einsamen Reisenden in Filmen und aus Büchern auf ihren weiten Reisen durch Niemandsland, das aus weitläufigen Einstellungen besteht, oder kärglichen Buchstabengebirgen. Meine Reise wird durch beides gleichermassen beschrieben, hier, in diesem Blog. Gleich steige ich in den Zug, sehr bald schon.

Aug 14, 2009

1 Gedicht/Tag

Hamlet - 3. Akt, 1. Szene

To be, or not to be - that is the question:
Whether 'tis nobler in the mind to suffer
The slings and arrows of outrageous fortune
Or to take arms against a sea of troubles
And by opposing end them. To die, to sleep -
No more - and by a sleep to say we end
The heartache, and the thousand natural shocks
That flesh is heir to. 'Tis a consummation
Devoutly to be wished.

Sein oder Nichtsein - das ist hier die Frage.
Ob's mehr uns adelt wohl im Geiste, die
Pfeile und Schleudern wüsten Schicksals
Stumm zu dulden, oder das Schwert zu ziehen
gegen ein Meer der Plagen, und im Anrennen
enden. Sterben, schlafen, mehr nicht;
Und wissen, dass durch einen Schlaf
wir's Herzweh enden und die tausend Lebenshiebe,
die unserm Fleisch vererbt sind -
Es ist eine Erfüllung insbrünstig beizuwünschen.

-Shakespeare

Aug 13, 2009

Fast Sarajevo IV

Die Tage in Sarnate verstreichen, wie die Tage in Seminaren eben vorübergehen; sie zerfliessen zäh, die aufgenommene Masse an zivilgesellschaftlicher Erkenntnis tropft träge an den Dachstützen aus uraltem Holz vorbei, durch die Dielen unseres Dreierzimmers, in den Esssaal mit der wunderbaren Aussicht auf Wald, See und Saunahütte. Die versammelten Kollegiaten sind eine Gruppe geworden, von der man umgeben ist wie von Wasser, wenn man badet. Wir hören uns Beiträge im Radio an, beschäftigen uns mit unseren Themen und schauen wehmütig in die Landschaft, deren Anblick schon in einer kleinen Woche nur noch Erinnerung sein wird. Zwei Wochen sind wir hier. Ich denke öfters an Berlin zurück und an meine anschliessende Reise. Schlafgelegenheiten in den Städten des Balkans sind noch nicht gefunden, ausgerechnet an den ruhigeren Tagen fällt unsere Internetverbindung aus und meine Suche nach einer Unterkunft muss ich auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Die Tage ziehen vorüber, wie Seminartage eben vorüber ziehen – sie schleichen sich nachts, im Dunkeln, an unserem Hotel vorbei, durch die Wälder und über die Felder, bis zur grasbewachsenen Steilküste des Meeres, zu dem wir jeden Morgen laufen. Am Samstag befeuerten wir den Ofen in der russischen Banja, deren Wände aus massiven Baumstämmen bestehen und in der zwei Etagen mit enggerückten Liegen stehen. Die Luft in der Sauna war trocken, wir badeten zwischendurch in dem kleinen See vor dem Haus. Später, als es schon dunkelte, und wir nach zwei Saunagängen noch immer nicht genug hatten, banden wir junge Birkenastbüschel zusammen, gossen noch mehr mit Farnzweigen versetztes Wasser auf die glühenden Steine über dem Ofen und schlugen uns mit den in heissem Wasser eingelegten Ästen Brust, Rücken und Beine ab. Mehr und mehr roch die Banja nach Birke, wir stöhnten ob der Hitze und den wohltuenden Hieben, die unsere Haut belebten. Später, als der Vollmond über dem kleinen See stand und erste Nebelschwaden aus dem Wasser aufstiegen, tauchten wir ein letztes Mal in dieser Nacht in das kühle Nass, durchpflügten mit unseren Zügen den Nebel und wünschten uns nichts sehnlicher, als fern der Städte zu leben, auf einem Landgut in der waldigen Steppe des Nordens wie diesem.

Aug 11, 2009

1 Gedicht/Nacht

Hoffnung

Schaff', das Tagwerk meiner Hände,
Hohes Glück, daß ich's vollende!
Laß, o laß mich nicht ermatten!
Nein, es sind nicht leere Träume:
Jetzt nur Stangen, diese Bäume
Geben einst noch Frucht und Schatten.

Goethe

Aug 8, 2009

1 Gedicht/Nacht

Der Brief den du geschrieben


Der Brief, den du geschrieben,
Er macht mich gar nicht bang;
Du willst mich nicht mehr lieben,
Aber dein Brief ist lang.

Zwölf Seiten, eng und zierlich!
Ein kleines Manuskript!
Man schreibt nicht so ausführlich,
Wenn man den Abschied gibt.


Heinrich Heine

Aug 6, 2009

Konferenz der Tiere III

Rückblende auf Juni. Cortona. Italien, Konferenz, Wissenschaftsgemeinde, Spiritualität. Mit der Konferenz, über die ich berichten möchte, verbinde ich sehr viel, dabei ist es gleichzeitig schwierig, das alles in Worte, geschweige denn in Sätze zu fassen, noch dazu all das jemandem begrifflich zu machen, der nicht mit dabei war. Deswegen setze ich hier dazu an. Der Beginn ist ja schliesslich das Wichtigste.

Cortona beinhaltet vielerlei Dinge; einige bleiben den Besuchern, die durch die kleine Stadt in der Provinz Arezzo (Toskana) flanieren, allerdings verborgen. Für die Naturwissenschaftsgemeinde der Technischen Hochschule in Zürich ist Cortona seit über 20 Jahren Inbegriff eines Tabubruchs. 1985 versammelten sich in einem ehemaligen Kloster, das jetzt Hotel ist, zum ersten Mal Naturwissenschaftler, Künstler und Spirituelle, um gemeinsam die Grenzen und Verbindungen ihrer Professionen und Interessen auszuloten. Das Zusammenbringen von Angehörigen der exakten, naturwissenschaftlichen Akademie, der psychologischen, philosophisch/theologischen Fakultäten und der Künste sollte so etwas wie ein Dogma für die Seminarwoche werden. «Naturwissenschaft und die Ganzheit des Lebens» lautet deshalb auch seit Beginn an der Untertitel der interdisziplinären Veranstaltung; das Hauptthema 2008 war «belief and knowledge», und fasst diese Verbindung von einem einfachen Standpunkt aus zusammen. Glauben oder Wissen, errechnen oder erbeten, beweisen oder predigen – welches ist das Richtige, und wieso überhaupt diese Fragen stellen? Beim Blick in Zeitungen und Blogs mögen Leser den Eindruck erhalten, dass zwischen Religion und Naturwissenschaft eine natürliche Grenze verläuft, und dass sich die beiden Parteien spinnefeind wären. In Wirklichkeit gibt es jedoch viele Professoren, Doktoranden und überhaupt Forscher und Studenten der Naturwissenschaften, die gläubig sind. Darüber hinaus stellt das Programm von «Cortona» den Anspruch an sich und seine Teilnehmer, dass nicht nur in einem schlicht religiösen Rahmen gedacht wird, sondern all jene Geisteseinstellungen eingeladen werden, die nach Aufklärung und Klarheit und nach einem gesunden Zusammenleben von Mensch und Natur streben. So finden im Programm der Woche Dinge wie Yoga, Malerei, Tanzen oder Tai Chi Eingang.

«Cortona» versteht sich als Begegnungsort für verschiedene Disziplinen, die dort nicht zwanghaft einen pressefähigen Schulterschluss suchen, sondern gemeinsam erforschen können, inwieweit die anderen Schulen sinnvoll sind für eine ganzheitliche Ausbildung und Lebensweise. Die rücksichtsvollen, menschenfreundlichen und im Grundsatz nachhaltigen Ideen einer moralischen Schule könnten Initiativgedanken einer technologieentwickelnden, anderen Schule sein. Im Austausch mit anderen Denkrichtungen oder Klientelgruppen ist es leichter zu erfahren, wo deren Bedürfnisse, Mängel oder Vorteile liegen. So ist die Idee des Cortona-Seminars.

Im Endeffekt geht es darum, die eigene Sichtweise nicht zwingend zu verändern, sondern um ergänzende Gedanken sinvoll zu erweitern. Es kommen Menschen nach Cortona, die ihr ganzes Leben einer oder mehrerer Fachrichtungen gewidmet haben; es ist illusorisch zu denken, ihre Einstellung im Grunde verändern zu können. «Cortona» argumentiert auf einer Ebene des Gesunden, Ganzheitlichen, und tut dies grösstenteils mit den Instrumenten der Logik, einer Denkart, die alle verstehen können.

Aug 3, 2009

Fast Sarajevo III

Im Flughafenbus vor einem schweizer Pärchen gestanden, das nur quengelte; eine Eigenschaft, die ich bei diesen Leuten öfters beobachte, wie mir scheint.
Der Flug war pünktlich, ruhig und führte uns wunderschön erst über Berlin, das ich dank Fensterplatz gut überblicken konnte, später über die Ostsee. Wir flogen der Dämmerung davon und landeten, als in Riga schon Nacht war. Der Bus brachte mich zum Einkaufszentrum neben dem Bahnhof, von dort bahnte ich mir meinen Weg durch die Kopfsteinstrassen der Altstadt, vorbei an den Freitagabend-Horden vor den Clubs und Bars der lettischen Hauptstadt. Ich lud meine Sachen im Hostel ab, wo ich keinen der anderen Seminarteilnehmer ausfindig machen konnte. Ich ging Abendessen in der Pizzeria einer litauischen Kette, direkt hinter dem Freiheitsdenkmal. Die Strassen, Häuser, die gesamte Altstadt erinnerte mich an Trier, die Häuser waren alt, teils Jugendstil, das Parlamentsgebäude sah aus wie der Palast der Medici in Florenz, es gab eine Barockkirche, neben einigen anderen mehr. Riga ist aufgeladen von Architektur in all seinen Formen, es ist sauber wie in Zürich, die Menschen freundlich und hilfsbereit wie nirgendwo, es gibt einige Bettler, aber im Grossen und Ganzen merkt man nicht, dass man in einem Land ist, das seit rund einem Jahr von der Finanzkrise geschüttelt wird wie kein zweites. Es ist ruhig, kein Zeichen mehr von den aggressiven Protesten, die am 13. Januar 2009 (am Jahrestag der Befreiung der baltischen Staaten 1991) stattfanden. Es ist ruhig, hunderte von Touristen strömen durch die Stadt. Wir verbrachten Samstagnacht einige Stunden in den gut gefüllten Kneipen neben unserem Hostel und besorgten uns am Sonntag die letzten Vorräte für unseren Tagungsort, der 40 Kilometer entfernt von Ventspils in der Pampa liegt. Die lettischen Frauen sind hübsch, sehr hübsch, laufen wahnsinnig aufgedonnert herum und haben eine emanzipierte Art, aufreizend zu wirken und doch so hilflos. Die Lettinnen erinnerten mich an eine Landesfrau, die ich in Mannheim kennengelernt hatte, die mir in ihrer Arroganz und ihrer Kompromisslosigkeit ein schlechtes Bild des Landes gezeichnet hatte. Das Bild, das ich jetzt von dem süssen Ostsee-Anrainerstaat erhielt, war wesentlich besser und sonniger.

Nach langer Busfahrt kamen wir an unserem Seminarort an, eine Ansammlung von fünf bis sechs Häusern, mit künstlich angelegten Teichen dazwischen, Feldern, Wäldern, und das alles auf einem rund 34 Hektar grossem Gelände, das sich Sarnate nennt. Sarnate ist angeblich der Ort, wo die älteste baltische Siedlung stand, bis hierher reichte einst das Meer, das jetzt rund zwei Kilometer entfernt ist, und das, so der Klimawandel will, auch wieder hier branden wird. Zwei Kilometer – eine ideale Strecke zum Joggen, man gelangt zuletzt auf einen langen, geraden Feldweg, an einem Gestüt vorbei, dann an eine kleine, grasbewachsene und sandige Steilküste, die mich an die Prignitz erinnert. Hier würden wir jeden Tag vor dem Frühstück hinlaufen, und hier würden wir die nächsten beiden Wochen bleiben, in dem grünen Niemandsland zwischen Vilnius und Tallinn.